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Free AccessKommentar

Entgegnung: Unterschiedliche Überzeugungen, aber nur eine Wahrheit

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000677

Wir danken den Mitgliedern der Aufarbeitungskommission für die Auseinandersetzung mit unserem Positionspapier. Unseres Erachtens umfasst die Stellungnahme der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2024) vier Hauptargumente, die wir im Folgenden adressieren.

1. Mögliche Belege für organisierte und rituelle sexuelle Gewalt. Die Existenz organisierter sexueller Gewalt steht ebenso außer Frage wie das Vorkommen von Straftaten in Sekten – beides wurde im Positionspapier ausdrücklich benannt. Die im Kommentar genannten Fälle – der sog. Prophet der Glaubensgemeinschaft Orde der Transformanten und die Colonia Dignidad – sind Beispiele für sexuelle Gewalt in Machtstrukturen. Wesentliche Bestimmungsstücke für rituelle sexuelle Gewalt, wie sie unter anderem in einem Dokument des Fachkreises „Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ beim BMFSFJ (2018) zum Ausdruck kommen, sind aber für beide Tatkomplexe nicht beschrieben worden, etwa die „gezielte Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit“, verbunden mit einer „systematischen Abrichtung“ mit dem Ziel einer „innere‍[n] Struktur, die durch die Täter_innen jederzeit steuerbar ist und für die das Kind und später der Erwachsene im Alltag keine bewusste Erinnerung hat“ (S. 5). Eben diese Phänomene (gezielte Aufspaltung und langjähriges Sich-Nicht-Bewusst-Sein) waren aber von der Mehrheit der selbst-definierten Betroffenen bei Nick et al. (2018) beschrieben worden.1 Es gibt bundesweit keine kriminalistischen Nachweise für konspirative, vernetzte Gruppierungen, die Kinder und Erwachsene in rituellen Zeremonien systematisch sexuell, körperlich und psychisch misshandeln, quälen, foltern oder gar töten und mittels sogenannter Mind Control-Methoden lenken. Zwar werden durchaus entsprechende Anzeigen bei der Polizei erstattet, nur können dazu regelmäßig keine Täter_innen ermittelt und keine objektiven Sachbeweise gesichert werden – trotz umfassender Ermittlungen bis hin zu verdeckter Observation (Keil, 2023).

2. „Unterschiedliche Forschungsmethodologien“ und die „Pluralität erkenntnistheoretischer Ansätze“. Unsere Kritik an Nick et al. (2018) betrifft nicht den explorativen Charakter der Studie, sondern die konfirmatorische Ergebnisinterpretation sowie die nahezu vollständige Ausblendung anderweitiger Evidenz und Theorie. Obwohl für die Berichte der selbst-definierten Betroffenen andere Erklärungen wesentlich plausibler erscheinen als ein tatsächliches Erleben (z. B. Suggestion), wurde die Faktizität der Selbstberichte nicht thematisiert, sondern implizit vorausgesetzt.

Abgesehen von erkenntnistheoretischen Extrempositionen (z. B. Radikaler Konstruktivismus) wäre im Übrigen auch bei unterschiedlichen methodischen Zugängen eine Konvergenz der Erkenntnisse zu erwarten. Eine Aussage kann nicht zugleich wahr und falsch sein, nur weil Forschende unterschiedliche Methoden anwenden. Intersubjektive Gültigkeit ist dabei höher zu gewichten als der Grad individueller Überzeugtheit. Popper (1935) hat dargelegt, dass „subjektive Überzeugungserlebnisse niemals die Wahrheit wissenschaftlicher Sätze begründen, sondern innerhalb der Wissenschaft nur die Rolle eines Objekts der wissenschaftlichen, nämlich der empirisch-psychologischen Forschung spielen können“ (S. 17). Die verwendeten Begriffe (Pluralismus, Hegemonie) legen nahe, dass die Mitglieder der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2024) einen postmodernen Wahrheitsbegriff vertreten. Bei Lyotard (1979/1993) heißt es dementsprechend, man dürfe dem Wissen „keinen prognostischen Wert gegenüber der Realität einräumen, sondern einen strategischen bezüglich der gestellten Frage“ (S. 30). Eine solche Entkoppelung des Wissens von der Realität kann u. E. im vorliegenden Kontext mehr Schaden als Nutzen anrichten, auch zu Lasten der selbst-definierten Betroffenen.

3. Angebliche Gedächtnisbeeinträchtigung bei Traumatisierung und die ökologische Validität von Laborstudien zu falschen Erinnerungen. Die bisherige Forschung spricht deutlich für eine besonders gute Erinnerung an selbst-relevante, emotionale und überlebenswichtige Inhalte – und die Abspeicherung im Gedächtnis wird durch Stress eher begünstigt als behindert (Sommer & Gamer, 2018). Williams (1994) stellt lediglich ein Nicht-Berichten eines dokumentierten Missbrauchs fest. Es erscheint fraglich, ob hier überhaupt eine Amnesie erfasst wurde (Ghetti et al., 2006). Die ebenfalls zitierte Arbeit von Staniloiu et al. (2018) berichtet ausschließlich über Fälle totaler Amnesie (d. h. bzgl. des gesamten Lebens oder sämtlicher Inhalte über längere Zeiträume). Auch damit lässt sich ein selektiver und nach vielen Jahren reversibler Gedächtnisverlust konkreter Ereignisse, wie bei Nick et al. (2018) impliziert, nicht erklären.

Die ökologische Validität von Laborstudien zu falschen Erinnerungen an traumatische Ereignisse ist aus ethischen Gründen notwendigerweise begrenzt; sie wird aber ergänzt durch systematische Forschung zu Menschen, die Erinnerungen an Traumata für sich als suggeriert identifiziert haben (Ost, 2017).

4. Verdeckte Agenda – „Durchsetzung eines bestimmten Verständnisses der Glaubhaftigkeitsbegutachtung“. Die Methodik der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist nicht Thema unseres Positionspapiers. Richtig ist jedoch, dass wir die Frage nach der Erlebnisbasiertheit der erhobenen Angaben bei Nick et al. (2018) für relevant erachten. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2024) hält die subjektive Selbstzuschreibung als Betroffene offenbar für zentral und eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Hinweisen auf Suggestion für per se diskreditierend. Sich gegen ein überkritisches Infragestellen zu verwahren, ist insofern nachvollziehbar, als Opfer von sexuellem Missbrauch die Tat jenseits ihrer Aussage häufig nicht nachweisen können. Für die Berichte des rituellen sexuellen Missbrauchs fehlen aber nicht nur Belege, sie basieren vielmehr zentral auf psychologisch fragwürdigen Konzepten (z. B. Mind Control, absichtsvolle Aufspaltung der Persönlichkeit). Ein Erkenntnisgewinn über diesen spezifischen Missbrauchsbereich ist daher nicht möglich, wenn ausgeblendet wird, dass ein zur Untersuchung stehendes Phänomen selbst wissenschaftlich begründet in Zweifel steht. Auf die möglichen gravierenden negativen Effekte für vulnerable Patient_innen, die in dem Glauben bestärkt werden, einem allmächtigen Täternetzwerk ausgesetzt zu sein, wenn ein solches nicht existiert, ist in unserem Positionspapier ebenfalls hingewiesen worden.

Ausblick

Der Forderung nach einem sachlichen und kritisch-konstruktiven Austausch können wir uns uneingeschränkt anschließen, im Vertrauen darauf, dass die „Fehlbarkeit der eigenen Position“, auf die von den Mitgliedern der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2024) hingewiesen wird, von allen Beteiligten anerkannt wird.

Literatur

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1Für die Colonia Dignidad ist allerdings der Einsatz von Elektroschocks bis hin zur Elektrokrampftherapie sowie von Psychopharmaka beschrieben worden, um Erinnerungen an konkrete Missbrauchserfahrungen zu löschen (Stehle, 2021).