«Mein Cousin hat mich missbraucht»

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Sexueller Missbrauch von Männern«Mein Cousin hat mich missbraucht»

Alex war fünf Jahre alt, als er von seinem Cousin missbraucht wurde. Valentin war 13, als ihn sein Jugendleiter im Intimbereich anfasste. Jahrelang haben sie über diese Vorfälle geschwiegen. Nun reden die jungen Männer öffentlich darüber.

Darum gehts

  • Alex war 5 Jahre alt, als er von seinem 17-jährigen Cousin missbraucht wurde.
  • Valentin war 13, als er vom 40-jährigen Jugendgruppenleiter im Intimbereich angefasst wurde.
  • Beide haben jahrelang über die Vorfälle geschwiegen. Nun reden sie öffentlich darüber.
  • Laut Schweizer Gesetz können Männer nicht vergewaltigt werden.
  • Dies soll sich nun ändern. Dafür setzt sich unter anderem Nationalrätin Christa Markwalder ein: «Das ist wichtig, damit sich die männlichen Opfer ernst genommen fühlen.»

Alex ist 19 Jahre alt. Seinen echten Namen will er nicht sagen. Im Video wird er mit einem Bodydouble ersetzt. Zu gross ist seine Angst, dass ihn jemand erkennen könnte. Seine Familie und seine Freunde wissen nicht, dass er sexuell missbraucht wurde. «Ich bin noch nicht bereit, mit ihnen darüber zu reden. Denn ich möchte von ihnen nicht anders behandelt werden», sagt Alex. Doch seine Geschichte möchte er trotzdem erzählen – anonym.

Er ist einer von vier Männern, die in der Webvideo-Serie «Unspoken» über ihre sexuellen Missbräuche reden. «Unspoken» ist die Bachelorarbeit der 24-jährigen Aargauerin Caroline Bless: «Die #metoo-Bewegung stellt Frauen in den Vordergrund, die über ihren sexuellen Missbrauch reden. Wenn man aber fragt, was mit den männlichen Opfern ist, löst man einen Shitstorm aus. Das darf nicht sein. Auch Männer werden sexuell missbraucht.» Genau diesen Männern möchte Bless mit ihrer multimedialen Arbeit eine Stimme geben.

In Zusammenarbeit mit der Opferberatung Zürich und der Schwulenorganisation Pink Cross suchte Bless ein halbes Jahr lang nach Männern, die vor der Kamera über ihren Missbrauch reden wollten. «Der Fakt, dass Männer laut Schweizer Gesetz gar nicht vergewaltigt werden können, schockierte mich und bestätigte mich in meinem Vorhaben.»

«Sein Lachen nach dem Missbrauch werde ich nie vergessen.»

Alex (19)

Alex war fünf Jahre alt, als sein 17-jähriger Cousin ihn zum ersten Mal sexuell missbrauchte: «Eigentlich hätte er auf mich aufpassen sollen. Doch er nutzte die Situation aus.» Drei Jahre lang ging das so. «Als die Missbräuche aufhörten, verdrängte ich sie. Ich lebte, als sei das alles nie passiert», erzählt Alex im Video. Dann, vor zwei Jahren, wurde Alex von seinem Date vergewaltigt: «Er fragte mich, ob ich bei ihm übernachten wolle. Ich willigte ein unter der Bedingung, dass wir keinen Sex haben werden.» Doch sein Date hielt sich nicht an die Abmachung: «Er kam mir immer näher, und je mehr ich mich wehrte, desto aggressiver wurde er. Sein Lachen nach dem Missbrauch werde ich nie vergessen.» Danach hielt es Alex nicht mehr aus, er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Er entschied sich für einen Klinikaufenthalt.

Erst durch die Therapie konnte sich der Teenager wieder an die Übergriffe seines Cousins erinnern. «Mir wurde klar, warum ich jahrelang depressiv war. Aber selbst jetzt mit meinen wöchentlichen Therapiestunden weiss ich nicht, ob es mir jemals wieder besser gehen wird», sagt Alex gegenüber 20 Minuten. Er wünscht sich, dass es andere leichter haben als er damals. Er sei so hilflos gewesen, habe nicht einmal gewusst, dass es Beratungsstellen gebe (siehe Box). Darum entschied er sich, beim Projekt «unspoken» mitzumachen.

«Ich bin erleichtert, dass ich meine Geschichte öffentlich erzählen darf und ich hoffe, dass sich dadurch etwas ändern wird», sagt Alex. Konkret wünscht er sich eine vollkommene Gleichstellung von Mann und Frau, denn: «Wenn die Leute akzeptieren, dass auch Männer Opfer von sexueller Gewalt sein können, würden diese hoffentlich offener darüber reden. Frauen wie auch Männer können Opfer und Täter sein.»

«Wenn dir etwas nicht guttut, dann sprich darüber!»

Valentin (24)

Valentin war etwa 13 Jahre alt, als er und sein Jugendkollege Niels von ihrem 40-jährigen Jugendgruppenleiter im Intimbereich angefasst wurden. Die beiden Freunde redeten nie über den Vorfall – bis Valentin von der Bachelorarbeit von Caroline Bless erfuhr. «Ich habe Niels angerufen und gefragt, ob wir beim Projekt gemeinsam mitmachen sollten. Er war überrascht – denn bis anhin wusste er gar nicht, dass der Jugendleiter auch bei mir übergriffig geworden war.» Sie entschieden sich, bei der Bachelorarbeit von Caroline Bless mitzumachen. Während Valentin im Video sein Gesicht zeigt, will Niels lieber anonym bleiben.

Obwohl Valentin nun offener mit seiner Vergangenheit umgeht, hat er seinen Eltern noch nichts vom übergriffigen Jugendleiter gesagt. «Keine Ahnung, warum ich ihnen noch nichts gesagt habe. Dafür gibt es eigentlich keinen Grund», sagt er zu 20 Minuten.Bestraft wurde der Jugendleiter nie. Manchmal sehe er ihn im Zug, erzählt Valentin: «Ich frage mich dann jeweils, wie ein Mensch so etwas einem Kind antun kann. Aber grundsätzlich ist er mir inzwischen egal.» Viel wichtiger findet Valentin die Aufklärung über dieses Thema: «Ich hoffe, mit meiner Geschichte anderen Jungs Mut machen zu können, sodass sie über ihre Missbräuche sprechen. Denn egal wie klein so ein Übergriff auch scheinen mag: Wenn dir etwas nicht guttut, dann sprich darüber!»

Bist du ein Mann und möchtest du im Rahmen einer Reportage über deinen sexuellen Missbrauch reden? Dann melde dich hier bei uns.

«Es bleibt mein Herzensprojekt»

Manolito Steffen von Pink Cross ist von der Bachelorarbeit begeistert: «Die Videos helfen, die Thematik, dass auch Männer sexuell missbraucht werden, sichtbar zu machen. Es ist nach wie vor noch ein Tabuthema, das durchbrochen werden muss.»Vergangene Woche schloss Caroline Bless ihr Studium «Cast / Audiovisual Media» an der Zürcher Hochschule der Künste mit der Abschlusspräsentation ihrer Arbeit ab. Künftig wird sie als E-Business-Managerin arbeiten. «Unspoken» bleibt aber ihr Herzensprojekt. «Falls sich weitere Männer bei mir melden, die über ihre Erfahrungen reden möchten, dann kann ich mir gut vorstellen, weitere Videos zu drehen», sagt Bless.

Weitere Informationen sowie das dritte Video gibt es auf Unspoken.ch und auf Instagram.

Vergewaltigung bei Männern

Laut Artikel 190 des Strafgesetzbuches handelt es sich um eine Vergewaltigung, «wenn eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs» genötigt wird. Somit können Männer per Gesetz keine Vergewaltigungsopfer sein.
Eine Standesinitiative aus dem Jahre 2014 will die Artikel 189 und 190 des Strafgesetzbuches so ändern, «dass der Rechtsbegriff der Vergewaltigung erweitert wird und auch Personen männlichen Geschlechts als Opfer in den Tatbestand einschliesst». Der parlamentarische Entscheid darüber steht noch aus.
Aber: Der Ständerat hat diese Woche beschlossen, das Sexualstrafrecht zu überarbeiten, um es den heutigen, gesellschaftlichen Vorstellungen anzupassen. Christa Markwalder, Vizepräsidentin der Rechtskommission im Nationalrat sagt dazu: «Im Gesetz wird zwar beim Geschlecht der Opfer unterschieden, in der Rechtsprechung werden aber Sexualstraftäter gleichermassen bestraft – unabhängig ob ihr Opfer ein Mann oder eine Frau war.» Trotzdem sieht Markwalder die Notwendigkeit, den Vergewaltigungsbegriff auch auf Männer auszuweiten: «Die Rechtsprechung soll im Gesetz verankert werden. Das ist wichtig, damit sich die männlichen Opfer ernst genommen fühlen.»

Hilfe bei sexueller Gewalt

Im Notfall:

Polizei, 117

Medizinische Hilfe, 144

Anlaufstellen und Beratung:

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz (opferhilfe-schweiz.ch)

LGBT+ Helpline, 0800 133 133, Montag bis Donnerstag von 19 bis 21 Uhr (lgbt-helpline.ch)

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