Offener Brief: Der Ukraine die Unterstützung zu verweigern, ist grotesk

In einem Offenen Brief haben 18 Intellektuelle gegen Waffenlieferungen an die Ukraine plädiert. Hier antwortet ein Ukraine-Aktivist und widerspricht.

Eine Demonstrantin auf einer pro-ukrainischen Demo in Düsseldorf.
Eine Demonstrantin auf einer pro-ukrainischen Demo in Düsseldorf.imago

Ein Offener Brief von linken Intellektuellen, der den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordert, hat für eine Kontroverse gesorgt. Hier antwortet Christian Zeller. Er engagiert sich für die ukrainische Zivilgesellschaft.

Am 22. April veröffentlichte die Berliner Zeitung auf ihren Onlineseiten einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz. 18 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Kultur – darunter Daniela Dahn, Jürgen Grässlin, Mohssen Massarrat, Norman Paech und Konstantin Wecker – fordern die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen.

In einem Moment, in dem das Nato-Land Türkei die kurdische Bevölkerung im Irak und Syrien großflächig mit Luftangriffen und schwerer Artillerie terrorisiert, fordern die Unterzeichnenden nicht etwa den Stopp der Waffenlieferung an die Türkei. Die Unterzeichnenden kritisieren auch nicht die umfangreichen Waffenexporte Deutschlands an die Diktatur in Saudi-Arabien, die die Bevölkerung im Nachbarland Jemen massakriert.

Die Aufrufenden protestieren vielmehr gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine, die sich seit zwei Monaten überraschend erfolgreich den russischen Invasions- und Besatzungstruppen entgegenstellt. Die Aufrufenden erklären sich nicht solidarisch mit der kurdischen Bevölkerung und ihrer Befreiungsbewegung oder den Vergessenen im Jemen, sondern sie empfehlen den Menschen in der Ukraine, sich der russischen Übermacht zu ergeben und eine militärische Besatzungsdiktatur zu akzeptieren. Dieser Aufruf offenbart die Irrungen wesentlicher Teile der deutschen Friedensbewegung.

Waffenlieferung bedeuten keineswegs, kriegsführendes Land zu sein

Ausgangspunkt ist die Warnung „vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt.“ Ja, das Risiko einer Ausweitung des Krieges besteht. Doch es ist das Putin-Regime, das den Krieg eskaliert und sogar den Einsatz von Atomwaffen andeutete. Im Aufruf steht: „Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere Nato-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht.“ Das ist falsch. Wenn diese Aussage richtig wäre, hätten sich einzelne Nato-Staaten bereits in vielen Kriegen zur Kriegspartei gemacht und die UdSSR und China wären kriegsführende Länder in Vietnam gegen die USA gewesen. Wir wären somit längst in einer weltkriegsähnlichen Situation. Wir alle wissen, dass dem nicht so ist.

Waffenlieferung bedeuten keineswegs, kriegsführendes Land zu sein. Das weiß auch Putin, denn sein Regime liefert selber viele Waffen an Kriegsparteien, ohne direkt selber Krieg zu führen. Das wissen auch die Verantwortlichen der Nato. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass diese derzeit einen Krieg gegen Russland anstreben. Der offene Brief schreibt, Waffenlieferungen würden den Krieg und das Blutvergießen verlängern. Das ist aus historischen Erfahrungen eine nicht belegbare Behauptung. Haben die Waffenlieferungen der USA an die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg verlängert?

Die deutschen Waffenexporte an die Ukraine waren bislang relativ gering

Der Krieg werde auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen, schreiben die Unterzeichnenden. Ja, das ist richtig. Doch der Aufruf verschweigt willentlich einen entscheidenden Sachverhalt.

Die russische Militärmaschinerie scheiterte in der ersten Kriegsphase, die Ukraine zu besetzen und eine Marionettenregierung einzusetzen. Warum? Der ukrainische Widerstand ist viel stärker als Putin erwartete. Er übertrifft auch massiv die Erwartungen der Nato- und EU-Regierungen. Zu Kriegsbeginn empfahl beispielsweise die britische Regierung dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi das Land zu verlassen und aufzugeben. Die meisten westlichen Regierungen gingen von einer raschen Niederlage der Ukraine aus. Darin waren sie mit Putin einig. Zum Glück haben sie sich geirrt, denn sonst gäbe es keine ukrainische Zivilgesellschaft mehr.

Die Ukraine erhielt von 2014 bis 22 4 Milliarden USD Militärhilfe durch die USA. Doch ein Großteil davon floss erst nach Kriegsbeginn. Von 2014 bis 2021 betrug die direkte Militärhilfe 2,4 Milliarden US Dollar. Die deutschen Waffenexporte an die Ukraine waren bislang relativ gering, ungleich größer waren die deutschen Waffenexporte seit 2014 – trotz Embargo – an Russland und sogar bis in jüngste Zeit.

Das zentrale Versagen der Friedensbewegung

Entscheidend für die gegenwärtige Situation ist der Widerstand der Ukraine. Und nach allen Meldungen und Erfahrungsberichten, auch von Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft in der Ukraine, ist dieser Widerstand gesellschaftlich breit abgestützt. Nur auf der Grundlage dieses gesellschaftlichen Widerstandswillens konnte die Ukraine bislang gegen die russische Übermacht bestehen. Gewerkschaften, Nachbarschaftsstrukturen und freiwillige Territorialverteidigungseinheiten in den Wohnorten garantierten, dass die Zivilgesellschaft überleben konnte.

Erst auf Grundlage dieses erfolgreichen Widerstands mussten sich die Nato-Länder überhaupt der Herausforderung der Waffenlieferung an die Verteidiger:innen stellen. Diesen entscheidenden Punkt verschweigt der Appell. Das ist das zentrale Versagen der Friedensbewegung. Sie beachtet das gesellschaftliche Handeln in der Ukraine nicht und sie entsagt der ukrainischen Zivilgesellschaft ihre Solidarität. Die enge geopolitische Brille, die nur den Blick auf die Großmächte und ihre Regierungen freigibt, blendet derartige gesellschaftliche Dynamiken aus.

Die Unterzeichnenden warnen zur Recht vor der Ausweitung des Krieges

Im Aufruf steht, dass sich die Kriegsverbrechen häufen. Richtig. Doch warum verschweigen die Unterzeichnenden, wer die große Überzahl dieser Kriegsverbrechen begeht. Das ist die russische Armee. Schließlich befinden sich keine ukrainischen Truppen auf russischem Territorium. Der Aufruf zeigt sich sogar im Aufschrei gegen Kriegsverbrechen bewusst unklar und damit letztlich einseitig.

Die Unterzeichnenden warnen zur Recht vor der Ausweitung des Krieges und einer nicht mehr zu kontrollierenden Eskalation bis hin zum großen Krieg mit Atomwaffen. Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen. Dennoch bleibt diese Warnung plakativ. In welcher internationalen Ordnung leben wir, wenn eine imperiale Großmacht nur mit der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen ganze Gesellschaften zur Unterwerfung zwingen kann? Macht das Schule, haben wir die Tür zur Barbarei aufgerissen. Anstatt den Drohungen nachzugeben, müssen sich die sozialen Bewegungen viel mehr überlegen, wie Gesellschaften durch internationale praktische Solidarität bis hin zur Sabotage militärischer Infrastruktur, solchen Drohungen entgegenwirken können.

Die Unterzeichner empfehlen der Ukraine schlicht die Kapitulation

Die Unterzeichnenden wähnen die ukrainische Armee „der russischen weit unterlegen“. Sie habe „kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen“. Diese Einschätzung ist arrogant, ahistorisch und herrschaftsgläubig. Der ukrainische Widerstand hat in der ersten Phase des Krieges bereits bewiesen, dass sich eine zahlenmäßig und waffentechnisch überlegene Armee zurückschlagen lässt.

Das haben vor ihr schon viele Verteidigungskriege und Rebellenarmeen bewiesen. Zudem ist ein militärisches Kräfteverhältnis zugleich ein politisches. Je länger der ukrainische Widerstand durchhält, desto stärker erschöpft sich die russische Kriegsmaschinerie und desto eher treten Risse im Putin-Regime auf.

Die Unterzeichner:innen des Aufrufs empfehlen der Ukraine schlicht die Kapitulation. Die Unterzeichner:innen gehen also davon aus, dass unter den Bedingungen einer militärischen Besatzungsdiktatur und massenhafter Deportation von potentiellen Oppositionellen sich eine lebendige Zivilgesellschaft herausbilden könne, die schließlich die russischen Truppen friedlich zum Abzug bewegen könne. Diese Vorstellung mutet geradezu grotesk an. Sie nimmt die vom Putin-Regime selber offen formulierten Kriegsziele nicht ernst. Putin erklärte seit 2014 mehrfach in aller Offenheit und Klarheit, dass er das Existenzrecht der Ukraine als Staat und einer ukrainischen Nation bestreitet.

Angebote an Moskau und an Putin

Die Unterzeichner:innen bedauern zwar das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt. Das sei jedoch die „einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg.“ Deshalb sei der erste und wichtigste Schritt „ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand“. Die Unterzeichner:innen empfehlen konkret, „den militärischen Widerstand – gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung – zu beenden.

Die bereits von Präsident Selenskyj ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.“ Schließlich wünschen sich die Unterzeichnenden doch den „raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine“.

Putin-Regime könnte auf dem Weg zu einem neuen Faschismus sein

Bekanntlich werden Waffenstillstände auf der Grundlage eines konkreten Kräfteverhältnisses abgeschlossen. Putin hat auch in diesen Tagen wieder unmissverständlich klargemacht, dass er keinen Spielraum für Verhandlungen sehe. Was soll die Ukraine tun, wenn Putin eben größere Ziele verfolgt? In der Logik der Unterzeichnenden müsste die Ukraine dann aufgeben und sich dem Schicksal einer Teilung des Landes fügen.

Die Unterzeichnenden sorgen sich um die „berechtigter[n] Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten“. Damit schließen einige der Unterzeichnenden nahtlos an frühere Stellungnahmen an, in denen sie forderten, die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands seien zu respektieren. Den Sicherheitsinteressen der ukrainischen Bevölkerung schenkten sie bislang hingegen keine Beachtung.

Warum genießt die Nato-Mitgliedschaft in zahlreichen Ländern Osteuropas einen Rückhalt in der Bevölkerung? Wohl weil viele Menschen ihre leidvollen Erfahrungen mit dem russischen Militärapparat gemacht haben und weil sie über ein historisches Gedächtnis verfügen. Seit wann sind für Demokrat:innen die Sicherheitsinteressen von Diktaturen ein vordringliches Anliegen? Marxistische und sozialistische Autor:innen aus Russland fürchten sogar, dass sich das Putin-Regime auf den Weg zu einem neuen Faschismus begeben habe.

Die Nato-Länder tragen eine Verantwortung für die Zuspitzung der Krise

Gemäß dem offenen Brief sollen die am meisten gefährdeten Städte wie Kiew, Charkiv und Odessa zu „unverteidigten Städten“ erklärt werden. Das könne ihre Verwüstung verhindern. Das heißt konkret: Die russischen Truppen dürfen einmarschieren und ihre Militärdiktatur errichten. Potentielle Oppositionelle können herausgefiltert, in Lager gesteckt oder deportiert werden. Das geschieht schon jetzt, und zwar auch in Städten, die sich nicht verteidigt haben.

Das grundlegende Problem dieses Aufrufs ist nicht, dass er sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht. Verwerflich ist allerdings, dass die Unterzeichnenden der ukrainischen Bevölkerung keine eigene Subjektivität, ein kein eigenes Handlungsvermögen und schließlich auch nicht das Recht auf Widerstand zugestehen. Ihre Position läuft auf eine Tolerierung des russischen Imperialismus hinaus. Einige der Unterzeichnenden bleiben der Linie treu, die sie bereits vor dem Krieg äußerten. Damit stellen sie sich aktiv gegen die emanzipatorischen und linken Kräfte in der Ukraine, in Russland und in anderen Ländern Osteuropas.

Die Nato- und die EU-Länder tragen eine Verantwortung für die Zuspitzung der Krise. Doch Teile der Friedensbewegung übernehmen in dieser Hinsicht schlicht die russische Argumentation. Denn die relevante Ostausdehnung der Nato fand schließlich bereits bis 2004 statt. Es stand auch nicht auf der Tagesordnung, dass die Ukraine der Nato kurzfristig beitreten würde. Die EU unterbreitete bislang der Ukraine nicht einmal ein angemessenes Angebot zum Beitritt. Das Problem ist grundsätzlicher.

Schulterschluss mit Teilen der deutschen Wirtschaft

Nach dem Kollaps der bürokratischen Diktaturen in der Folge des Falls der Mauer waren die kapitalistischen Länder nicht willens, die Länder Osteuropas und vor allem Russland in einer gleichberechtigten Weise in das kapitalistische System zu integrieren. Im Gegenteil, sie verschärften die ungleiche Entwicklung in und zwischen den Ländern und die soziale Ungleichheit zwischen den Klassen. Sie beförderten in Russland die Entstehung einer Ökonomie, die sich primär auf die Extraktion von Rohstoffen stützt.

Putins Aufstieg nach den chaotischen 1990er-Jahren kam auch dem Kapital entgegen, das einen effizienten und notfalls hart durchgreifenden Gendarmen gegen soziale Unruhe brauchte. Der Aufstieg des Putin-Regimes lag durchaus im Interesse des „Westens“, nicht zuletzt der deutschen Wirtschaft. Unter geordneten, obgleich autoritären Verhältnissen konnte man besser langfristige Geschäfte eingehen.

Diese über die Zeit sich stabilisierenden wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen dem deutschen und russischen Kapital sind auch einer der Gründe, warum etliche deutsche Konzerne und die Regierung sich ausgesprochen zurückhaltend und zunächst widerwillig auf die von anderen Ländern vorangetriebene Sanktionspolitik gegen Russland einließen.

Solange man nicht weiß, wer den Krieg gewinnt, will man sich schließlich die Chance auf eine Wiederaufnahme lukrativer Geschäftstätigkeit in Russland nicht verbauen. Das erklärt auch teilweise, warum die deutsche Regierung in der Frage der Waffenlieferungen zurückhaltend und vorsichtig agiert. Insofern begehen jene Teile der Friedensbewegung, die sich hart gegen den ukrainische Widerstand stellen, sogar einen Schulterschluss mit Teilen der deutschen Wirtschaft, die die freundschaftlichen Bande mit ihren russischen Partner:innen gerne profitabel weiterhin pflegen möchte.

Recht auf Widerstand

Eine solidarische Antikriegsbewegung würde nicht den ukrainischen Widerstand gegen die russische Besatzungsarmee behindern, sondern sich auf die Seite der Gewerkschaften und Nachbarschaftskomitees in der Ukraine sowie der hart unterdrückten Antikriegsbewegung in Russland stellen. Die Solidarität mit dem Widerstand von unten gegen die äußeren und inneren Kräfte der Herrschaft; das muss die Orientierung einer lebendigen Antikriegsbewegung werden.

Eine solidarische Antikriegsbewegung muss sich selbstverständlich kompromisslos der Aufrüstung der Nato-Staaten entgegenstellen, ja sogar die Existenz der Nato ist in Frage zu stellen. Die Antikriegsbewegung und die Klimabewegung müssen zusammenkommen und eine gemeinsame Grundlage erarbeiten. Der Bezug russischen Erdgases und Öls ist einzustellen, ohne diese durch andere Bezugsquellen zu ersetzen.

Dieser Schritt zur Abkehr von den fossilen Energieträgern ist auch klimapolitisch nötig. Die Antikriegsbewegung muss sich – nicht zuletzt zum Schutze des Klimas – dafür einsetzen, dass alle Länder und ganz besonders die Nato-Länder ihre Rüstungsausgaben jährlich um 10 Prozent kürzen und schließlich die Rüstungsindustrie zurückbauen und in gesellschaftlich nützliche Produktion umwandeln. Weder Friedens- noch die Klimabewegung sollten aber je einer Bevölkerung des Recht auf Widerstand gegen eine imperialistische Invasionsarmee verwehren.

Christian Zeller engagiert sich in einem europäischen Solidaritätsnetzwerk für die ukrainische Zivilgesellschaft. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Emanzipation und hat kürzlich zwei international beachtete Online-Veranstaltungen mit Vertreter.innen linker Organisationen in Russland und der Ukraine organisiert. Mehr Informationen: https://emanzipation.org/category/events/

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