Durch Gruppen wie die rechtsextreme US-stämmige Bewegung QAnon gewinnen Verschwörungsmythen in jüngerer Vergangenheit an Fahrt und Öffentlichkeit. Die Wissenschaft beschäftigen die abstrusen Erzählungen schon wesentlich länger.

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In Wahrheit wird die Welt von Geheimdiensten regiert. Politiker sind eigentlich Echsenmenschen. Mit Corona-Impfungen werden Chips implantiert, um Menschen zu steuern. Kaum etwas scheint zu abwegig, um nicht doch von irgendeiner Verschwörungstheorie behauptet zu werden. Im Gegensatz zu anderen ungeprüften Vermutungen halten wir sie einer weiteren Diskussion nicht für würdig.

Doch was unterscheidet Verschwörungstheorien von solchen, die eine weitere Prüfung verdienen? Was berechtigt uns dazu, manche Behauptungen als an den Haaren herbeigezogen abzutun und unsere knappe Zeit anderen zuzuwenden? Zu dieser Frage hat sich in den letzten 25 Jahren eine umfangreiche Debatte in der Philosophie entsponnen, die mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus und der Pandemie noch deutlich an Fahrt aufgenommen hat.

Weil sie oft Xenophobie und Wissenschaftsfeindlichkeit Vorschub leisten, sind Verschwörungserzählungen ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem. Obzwar die Debatte 1995 von Charles Pigden mit der provokanten These entfacht wurde, ihre generelle Ablehnung sei so abergläubisch wie die Theorien selbst, seien Verschwörungen in der Geschichte doch keine Seltenheit, bemühten sich Erkenntnistheoretikerinnen und Erkenntnistheoretiker doch überwiegend darum, die betreffenden Theorien anhand bestimmter Kriterien als irrational auszuweisen.

Prüfung gewagter Hypothesen

Immer wieder zeigte sich jedoch, dass die angeführten Kriterien einer näheren Betrachtung nicht standhalten. Die Unterscheidung zwischen abstrusen Verschwörungstheorien und einer Prüfung würdigen Theorien erweist sich als erstaunlich schwierig. Das zentrale Problem besteht darin, dass es zu kurz greifen würde, sie von vornherein als falsch abzutun. Manchmal stellen sie sich doch als wahr heraus, wofür das klassische Beispiel die Watergate-Affäre ist: Dass der amerikanische Präsident Geheimagenten einsetzt, um politische Kontrahenten auszuspionieren, wurde so lange als Verschwörungstheorie abgetan, bis es sich als wahr erwies.

Auch das abgeschwächte Kriterium, dass Verschwörungstheorien einfach viel unwahrscheinlicher als noch nicht überprüfte Theorien aus den Wissenschaften sind, ist zur Unterscheidung ungeeignet. Denn oft werden auch in den Wissenschaften gewagte Hypothesen geprüft. Gerade jene Momente sind die Glanzstunden der Forschung, in denen sich eine riskante, bisherigen Auffassungen radikal widersprechende Vorhersage als wahr erweist.

Ontologische Sparsamkeit

Und andererseits haben auch wissenschaftliche Hypothesen verschwindend geringe Erfolgsaussichten, gemessen daran zumindest, wie viele tagtäglich formuliert werden. Die allermeisten Vermutungen erweisen sich durch Experimente und die Kritik von Fachkollegen als falsch. Sodann könnte man versuchen, Verschwörungstheorien dadurch abzusondern, dass man sie an bestimmten Werten misst, mit denen auch wissenschaftliche Theorien verglichen werden.

Zu diesen epistemischen Werten werden etwa Einfachheit und ontologische Sparsamkeit gezählt. Aus dieser Perspektive scheinen Verschwörungstheorien sogleich auszuscheiden, spekulieren sie doch hochkomplexe Zusammenhänge herbei und treffen sehr weitgehende Annahmen, etwa indem sie den handelnden Akteuren eine an schiere Omnipotenz grenzende Macht zuschreiben.

Die Corona-Pandemie als im Labor geplantes, weltweites Impf-Experiment? Einige Verschwörungsmythen sehen Bill Gates bizarre Ambitionen und absurde Allmacht zu.
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Doch wie etwa die Wissenschaftsphilosophin Helen E. Longino herausgearbeitet hat, haben solche Werte nicht den Charakter von Wahrheitsindikatoren. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Welt einfach ist. Bei den fraglichen Werten handelt es sich darum um eine konventionelle Heuristik, die nur für jene Gültigkeit hat, die die mit ihnen verbundenen Erkenntnisinteressen teilen. Befürworter von grundverschiedenen Weltauffassungen, wie sie Verschwörungstheorien propagieren, sind damit nicht zwingend zu überzeugen.

Nicht zu widerlegen

Zu guter Letzt könnte man noch anführen, dass sich Verschwörungstheorien von anderen durch ihre Unwiderlegbarkeit unterscheiden. Damit jedoch scheint eher etwas über ihre Befürworter als über die Behauptungen selbst gesagt zu werden. Weil sie viele höchst spezifische Aussagen über die Welt treffen, lassen sich Verschwörungstheorien eigentlich problemlos falsifizieren.

Dass widersprechende Tatsachen von ihren Befürwortern nicht zur Kenntnis genommen werden, führt der britische Epistemologe Quassim Cassam in diesem Sinne nicht auf die Theorien selbst, sondern auf Charaktereigenschaften wie Leichtgläubigkeit zurück, die er analog zur Rede von "epistemischen Tugenden" als "epistemische Laster" bezeichnet. Gerade darin könnte der Schlüssel liegen.

Wenn sich aus allein erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten keine belastbare Unterscheidung ergibt, gilt es den Blick weg von den Theorien hin zu ihren Befürwortern zu wenden. Lässt sich mit rein kognitiven Kriterien kein Filter für die Theorien entwickeln, gilt es den Kontext in den Blick zu nehmen, in dem sie zirkulieren. Für die Frage, was eine Verschwörungstheorie zu einer solchen macht, wäre ihre Wahrheit oder Falschheit dann belanglos. Entscheidend wäre vielmehr, ob sie bestimmte psychosoziale Funktionen für diejenigen erfüllen, die den Behauptungen so bereitwillig Glauben schenken.

Wenn das Leben kompliziert wird und die Realität verängstigt, kann der Glaube an Verschwörungserzählungen das Gefühl vermitteln, die Lage doch zu durchschauen und sogar zur wissenden Elite zu gehören.
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Ohnmachtserfahrungen

Seit der Frankfurter Schule weisen Soziologen darauf hin, dass der Glaube an Verschwörungstheorien Ohnmachtserfahrungen kompensiert, indem sie für strukturelle gesellschaftliche Verwerfungen konkrete Schuldige identifizieren. Dem von anonymen Verhältnissen bedrängten Subjekt bieten sie in einer schwer lesbaren Welt mit ihrem vermeintlichen Durchblick eine Möglichkeit der Resouveränisierung.

Erst aus einer solchen Perspektive ließe sich klären, was die kruden Gedankengebilde für viele Personen attraktiv macht, obwohl sie oft absurd sind, aus dubiosen Quellen stammen und gesellschaftlich geächtet werden. Und nur so ließe sich tolerieren, dass sich Verschwörungstheorien nicht nur unter irrationalen Personen verbreiten.

Was sie so gefährlich macht, ist ja gerade die Tatsache, dass sie auch jenseits der Kreise von Leichtgläubigen, Paranoiden und Spinnern zirkulieren. Statt von "Verschwörungstheorien" zu sprechen und sie mit anderen Theorien zu vergleichen, erschiene es darum angemessener, sie eher als "Erzählungen", "Ideologien" oder "Mythen" zu sehen. (Miguel de la Riva, 15.3.2022)