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Geflüchteter über libysche Gefangenschaft "Selbst wenn die Menschen die Flucht überleben, stirbt etwas in ihnen"

Filimon Mebrhatom brach als 14-Jähriger aus Eritrea nach Europa auf. Er verdurstete fast, wurde von Schleppern gequält, dann in libyschen Gefängnissen gefoltert. Nun hat er seine Geschichte aufgeschrieben.
Ein Interview von Maria Stöhr
Filimon Mebrhatom, heute 20 Jahre alt, flüchtete vor dem Regime in Eritrea

Filimon Mebrhatom, heute 20 Jahre alt, flüchtete vor dem Regime in Eritrea

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Globale Gesellschaft

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"Ein alter sudanesischer Mann kam auf mich zu und flößte mir langsam und behutsam drei Verschlusskappen Wasser ein. Das half mir, obwohl es nur so wenig war. Als die Menschen, die rund um mich saßen, das sahen, schienen auch sie zu bemerken, wie schlecht es um mich stand. Sie schickten sich nun an, aus ihrer Kleidung einen Sonnenschutz für mich zu bauen."

Es fällt leicht wegzuschauen, wenn die Geschichten fehlen. Zwar gibt es die Bilder und die Videos von afrikanischen Geflüchteten, sie zeigen die Flucht über das Mittelmeer, das Ankommen an griechischen und italienischen Stränden. Oder das Sterben. Aber es gibt wenige Bilder und Geschichten davon, was diese Menschen davor erlebt haben, in der Wüste, auf den Jeeps und Lastwagen der Schlepper. In den Gefängnissen von Libyen.

Filimon Mebrhatom hat seine Geschichte aufgeschrieben. In einer Januarnacht 2014 brach er auf, als 14-Jähriger, von seinem Heimatland Eritrea, zunächst nach Äthiopien, dann in den Sudan, irgendwann durch die Sahara, Richtung Libyen. Wie er sind in den vergangenen Jahren Hunderttausende  aus Eritrea geflohen. Mebrhatom vertraute sich Schleppern an, er verdurstete ein paar Mal fast, so schreibt er es.

Er landete in mehreren libyschen Gefängnissen, in den Händen einer Dschihadistenmiliz. Das einzige Zeugnis seiner Herkunft, ein Schülerausweis, wird in der Zeit verbrannt. Fast ein Jahr später landete er auf einem Schiff Richtung Italien und kurz darauf in München, wo er blieb.

Im Alter von 15 Jahren kommt Filimon in einem italienischen Hafen an und wird von dort in eine Unterkunft gebracht. Er macht sich allein auf den Weg Richtung Norden

Im Alter von 15 Jahren kommt Filimon in einem italienischen Hafen an und wird von dort in eine Unterkunft gebracht. Er macht sich allein auf den Weg Richtung Norden

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Mebrhatom, heute 20 Jahre alt, wurde in Deutschland als Flüchtling anerkannt. Er beendete die Schule und eine Ausbildung zum Cutter und Kameramann. Er will die Mittlere Reife nachholen, sagt er, unbedingt studieren. "Ich will doch nur frei sein" heißt sein Buch, es erscheint am 24. August; Ausschnitte daraus zitieren wir im Text kursiv. Der SPIEGEL kann seine Erinnerungen nicht in Gänze verifizieren, wir haben jedoch keinen Anlass, an deren Richtigkeit zu zweifeln. Das Interview führten wir mit Mebrhatom am Telefon.

SPIEGEL: Was nimmt man aus seiner Heimat mit, wenn man für immer geht?

Filimon Mebrhatom: Mein Cousin und ich sind gemeinsam aufgebrochen. Wir hatten etwas Geld dabei, sonst nichts. Das haben wir uns in die Kleidung genäht. Mit Gepäck ist es schwer, die Grenzen zu passieren. Man fällt auf. Wird vielleicht angeschwärzt. Ohne Gepäck kann man leichter rennen, wenn man verfolgt wird.

SPIEGEL: Wie haben Sie sich von Ihrer Familie verabschiedet?

Mebrhatom: In der Nacht meiner Flucht habe ich nicht bei meinen Eltern übernachtet. Ich ging abends zu Bett, am nächsten Morgen ging ich, ohne ein Wort. Ich habe mich nie von meiner Mutter verabschiedet. Ich konnte meinen Eltern nicht sagen, dass ich sie verlasse. Denn meine Schwester ist kurze Zeit vorher auf der Flucht gestorben.

Vom Sudan durch die Wüste Richtung Libyen

"Die Schlepper begannen ein zynisches Spiel: Für einen Schluck Wasser verlangten sie Geld und wollten uns nichts geben, bevor wir nicht bezahlt hätten. In unserem Zustand hatten wir keine Kraft zu diskutieren.

Als unser Pickup wieder einmal stecken geblieben war, waren die Fahrer besonders sauer und ließen ihre Wut an uns aus. Sie zwangen uns dazu, mit unseren bloßen Händen die Reifen frei zu graben. Der Sand drang dabei unter unsere Fingernägel, und wir schürften uns die Hände blutig."

SPIEGEL: Sie sind im Sudan auf den Jeep von Schleppern aufgestiegen und mit ihnen durch die Wüste Richtung Libyen gefahren. Sie beschreiben Hunger, Durst, Folter. Was hat Sie davon abgehalten umzukehren?

Mebrhatom: Ein Leben in Eritrea wäre keine Option gewesen. Ich wusste schon, dass die Flucht gefährlich sein würde, aber ich sah keine andere Möglichkeit als aufzubrechen. In Eritrea wird man gefoltert, wenn man ein Leben führt, das der Regierung nicht gefällt. Man wird unterdrückt. Ich hätte in den Militärdienst gemusst. Das ist kein gutes Leben, kein freies. Und ich wollte meine Eltern im Alter unterstützen, das wäre mir in Eritrea nicht gelungen.

"Selbst wenn die Menschen die Flucht überleben, stirbt etwas in ihnen, denn sie sehen Unmenschliches."

Filimon Mebrhatom

SPIEGEL: Warum sind die Schlepper so brutal?

Mebrhatom: Es ist ihre Art zu überleben. Das sind Menschen, die nie etwas anderes gelernt haben, als ihre Waffe zu benutzen, um Geld zu erpressen. Sie haben diese Prioritäten von klein auf so gelernt. Jeder, der eine Waffe hat, nutzt diese Macht, um andere Menschen zu unterdrücken, zu verkaufen, zu behandeln wie Sklaven. Wenn du in der Hand der Schlepper bist, wirst du wie ein Tier behandelt.

SPIEGEL: Sie schreiben, dass auch Mädchen und Frauen bei der Überfahrt in der Wüste dabei waren. Wie ist es ihnen ergangen?

Mebrhatom: Manchmal haben die Schlepper die Frauen aus dem Innenraum des Wagens zu sich nach vorn befohlen. Sie wurden dann angefasst, manche wurden während unserer Pausen in der Wüste vergewaltigt. Einige wurden schwanger. Wir konnten gar nichts tun, ich konnte sie nicht beschützen. Manchmal haben wir ihre Schreie gehört.

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Mebrhatom, Filimon

Ich will doch nur frei sein: Wie ich nach Unterdrückung, Gefangenschaft und Flucht weiter für eine Zukunft kämpfe

Verlag: Komplett Media GmbH
Seitenzahl: 256
Für 18,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

20.04.2024 12.47 Uhr

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In Libyens Gefängnissen

"Hier im Lager gab es noch andere Jungen in meinem Alter. Um uns die Zeit zu vertreiben, spielten wir Schach. Schachbrett und Figuren bastelten wir uns aus Papier und Baumharz selbst.

Abends bekamen wir eine spärliche Menge einer Art Nudeleintopf, von dem wir nicht wussten, was er enthielt. Beim Kauen knirschte es zwischen den Zähnen, und manchmal biss man auf Steine. Auch bei der Essensausgabe wurden Menschen wahllos geschlagen."

SPIEGEL: Nur selten erfährt die Öffentlichkeit, wie es in den libyschen Gefängnissen zugeht. Wie war es dort?

Mebrhatom: Es stank, die Menschen können sich nicht waschen. Es gab fast keine Toiletten. Tausende Menschen saßen eng gedrängt. In einem Lager musste ich, als ich nachts ankam, über die Menschen regelrecht drübersteigen, über Beine und Köpfe, so dicht lagen sie da. Wenn die Wärter kamen, war da immer die Hoffnung, dass wir weitergelassen werden Richtung Mittelmeer. Aber meistens kamen sie und schikanierten uns. Es herrscht Bürgerkrieg in Libyen, niemand muss sich an ein Gesetz halten.

SPIEGEL: Welche Menschen haben Sie in den Gefängnissen getroffen?

Mebrhatom: Sie kamen von überall her, viele hatten Ähnliches erlebt wie ich. Da waren Menschen, die die Fahrt übers Mittelmeer nicht schafften und zurückkehren mussten. Manche wurden wie Arbeitssoldaten gehalten. Manche hatten kein Geld mehr und keine Verwandten, von denen sie hätten freigekauft werden können. Manchmal sind Männer nachts umgefallen und waren tot. Es gab keine Ärzte und keine Medikamente.

"Wie schon an anderen Stationen meiner Flucht wurde ich Zeuge davon, dass Menschen versuchten, ihren eigenen Urin zu trinken, weil ihr Durst so groß war. Das Blut der Verletzten war einfach auf ihrer Haut und Kleidung getrocknet, und niemand konnte sich reinigen.

Flucht ist doch kein Verbrechen, dachte ich oft."

SPIEGEL: Sie waren über Monate in diesen Gefängnissen. Wie fühlt sich dort drinnen die Zeit an?

Mebrhatom: Du weißt irgendwann nicht mehr, wo du bist, welcher Tag es ist. Die Schlepper nahmen uns die Handys ab, ich hatte keine Uhr. Sie haben uns zum Beispiel in einen Kühllaster verladen, ohne Fenster. Darin ging es von dem einen Gefängnis ins nächste. Ich war in mehreren libyschen Lagern. Du fährst in der Nacht los, manchmal mit verbundenen Augen, den Kopf musst du stets gesenkt halten. Manchmal sagten uns die Libyer absichtlich falsche Uhrzeiten.

"Im Schlaf kannst du nicht kontrollieren, welche Bilder du siehst. Ich habe immer Bilder gesehen, die ich nicht mehr sehen wollte."

Filimon Mebrhatom

"An der Küste warteten bereits 150 Leute. Mit uns waren wir insgesamt 200. Jeder von uns hatte in etwa 2600 Dollar oder Euro bezahlt, um über das Mittelmeer zu kommen. Die Spannung unter den Wartenden war kaum auszuhalten."

SPIEGEL: Die Schlepper haben Ihre Verwandten immer wieder angerufen und gefordert, neues Geld zu schicken und für Ihre Fahrt übers Mittelmeer zu zahlen. Sie wurden während dieser Telefonate mit Strom gefoltert. Irgendwann brachten die Männer Sie dann tatsächlich an die Küste und auf ein Schiff. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie auf das Boot stiegen?

Mebrhatom: Ich kann nicht schwimmen. Mein Mut schwand. Wir saßen alle zusammen, Christen und Muslime, und beteten. Wir wurden dann von der italienischen Marine gerettet, aber ich weiß nicht, in welchem italienischen Hafen wir europäischen Boden betraten. Ich verstand kein Wort, ich war so müde.

Über das Mittelmeer bis nach München

SPIEGEL: Sie sind dann mit dem Zug nach München gekommen, von dort in eine Flüchtlingsunterkunft, und haben irgendwann ein Paar kennengelernt, das Sie bei den ersten Schritten in Deutschland unterstützte.

Mebrhatom: In München konnte ich die ersten zwei Jahre nicht gut schlafen. Im Schlaf kannst du nicht kontrollieren, welche Bilder du siehst. Ich habe immer Bilder gesehen, die ich nicht mehr sehen wollte. Ich bin dann oft nachts spazieren gegangen oder habe gebetet. Wenn es einen Streit im Flüchtlingsheim gab, sind die Erinnerungen wieder hochgekommen, das Leid, die Aggressionen. Wenn ich die Polizei sehe, dann bekomme ich heute noch Panik, ich denke dann an Libyen. Viele fragen mich, ob ich eine Therapie machen will. Aber ich schreibe viel, rede darüber und mache Musik. Ich habe vor drei Jahren angefangen, meine Geschichte zu erzählen. Ich will, dass viele sie kennen und verstehen, was es heißt, es als Flüchtling bis Europa geschafft zu haben.

SPIEGEL: Wie geht es Ihrer Familie? Wie oft hören Sie von ihr?

Mebrhatom: Ich will nicht viel über meine Familie sprechen, sie ist nicht in Sicherheit. Ich habe, seit ich in München bin, viermal mit meiner Mutter telefonieren können. Es gibt in meinem Heimatdorf sehr schlechtes Netz. Ich probiere es oft, aber ich komme fast nie durch. Ich wollte eigentlich dieses Jahr nach Äthiopien fliegen und meine Familie dort treffen - nach Eritrea kann ich unmöglich zurück. Doch wegen der Coronakrise geht das nicht.

SPIEGEL: Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk müssen jeden Tag 37.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilder von Menschen auf der Flucht siehst?

Mebrhatom: Ich frage mich, wann ist das Sterben zu Ende? Selbst wenn die Menschen die Flucht überleben, stirbt etwas in ihnen, denn sie sehen Unmenschliches. Dabei wünschen sie sich nur Freiheit. Die Menschen leben auf der Flucht nicht wie Menschen. Sie sind allein. Kein Mensch geht einfach so durch die Wüste, wo es kein Wasser gibt, kein Leben.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.