9.500 Menschen in Deutschland warten auf eine Organspende. Jeden Tag sterben Menschen, weil zu wenige Organe gespendet werden. Und das obwohl die meisten Deutschen einer Organspende positiv gegenüberstehen. Was also tun, um die Zahl der Spender zu erhöhen?

Darüber entscheidet an diesem Donnerstag der Bundestag. Konkret geht es um zwei Gesetzentwürfe. Die "doppelte Widerspruchslösung" sieht vor, dass künftig jeder, der nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, potenzieller Organspender ist. Der andere Entwurf will die schon geltende Entscheidungsregelung stärken (Details dazu finden Sie im Infokasten unten im Text). ZEIT ONLINE hat darüber mit dem deutschen Ethikratsvorsitzenden Peter Dabrock und der europäischen Ethikratsvorsitzenden Christiane Woopen gesprochen. Hier protokollieren wir ihre gegensätzlichen Standpunkte zu den Gesetzesänderungen.

Peter Dabrock sagt: "Die Widerspruchslösung ist ineffektiv, unverhältnismäßig und übergriffig"

Erst einmal: Es ist völlig klar, dass wir mehr Organspender brauchen. Tausende Menschen warten auf ein Organ, viele versterben, weil es nicht genügend Spender gibt. Trotzdem ist die Widerspruchslösung, wie Jens Spahn und Karl Lauterbach sie anstreben, der völlig falsche Weg. Denn für sie müsste der Staat die informierte Einwilligung aufgeben und damit eines der wichtigsten Grundprinzipien in der Medizin.

Peter Dabrock ist seit 2016 Vorsitzender des Ethikrats. Er ist Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Uni Erlangen. © Deutscher Ethikrat /​ R. Zensen

Die informierte Einwilligung ist eine große Errungenschaft unseres liberalen Zeitalters. Sie besagt: Immer, wenn Ärzte etwas tun wollen, müssen Patienten vorher zustimmen, dass sie den Eingriff wünschen. Ausgerechnet bei einer derart persönlichen Frage wie der Organspende soll dieser Grundsatz nicht mehr gelten? Das kann nicht sein. Schweigen darf niemals als Zustimmung gelten.

Dazu kommt: Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Widerspruchsregelung die Zahl der Organspenden erhöht. Es gibt zwar eine Assoziation zwischen der Einführung der Widerspruchslösung und der Zahl der Organspenden. Ob beides aber ursächlich zusammenhängt, ist fraglich. Nehmen wir Spanien, das beim Thema Organspende mit etwa viermal so vielen Spendern wie Deutschland das Vorzeigebeispiel ist. Dort haben zehn Jahre Widerspruchsregelung nichts gebracht. Erst als die Politik die Strukturen verändert hat, waren mehr Menschen bereit, ihre Organe zu spenden. Zudem wird dort – wie in anderen sogenannten Vorzeigeländern auch – nicht nur nach dem Hirntod, sondern auch nach dem Herztod explantiert. Das will aber bei uns fast niemand.

Abgesehen davon gilt in Spanien eine echte doppelte Widerspruchslösung. Das heißt, dass auch die Angehörigen die Möglichkeit haben, zu widersprechen. Der Gesetzentwurf von Spahn und Lauterbach sieht das nicht vor. Die Angehörigen sollen lediglich gefragt werden, ob ihr Verwandter zu Lebzeiten widersprochen hat. Das kann Angehörige in sehr schwierige Situationen bringen. Wenn Sie als Angehöriger nicht wollen, dass dem Verstorbenen Organe entnommen werden, aber nicht wissen, ob der Verstorbene spenden wollte, müssen Sie lügen. Wenn die Widerspruchsregelung durchkommt, müssten viele Menschen lügen lernen. Das finde ich bodenlos.

Statt der Widerspruchslösung sollten wir alles daran setzen, die Strukturen weiter zu verbessern. Zwar wurde das Transplantationsgesetz im vergangenen Jahr schon geändert, um die Rolle der Transplantationsbeauftragten an Kliniken zu verbessern und die Organentnahme auch finanziell besser zu honorieren. Aber hier müsste noch viel mehr gemacht werden. 

Außerdem brauchen wir einen Kulturwandel. Es muss selbstverständlich werden, dass wir als Gesellschaft über das Thema Organspende sprechen. Wir brauchen mehr Aufklärung, zum Beispiel in Hausarztpraxen und Ausweisstellen, wie es der Gesetzesvorschlag zur Entscheidungslösung auch vorsieht. Und wir brauchen eine breite Diskussion über den Hirntod, ein Thema, das sehr viele Menschen bewegt. Es zu ignorieren, wäre arrogant.

Die Widerspruchslösung lässt all das weitgehend außer Acht. Sie setzt darauf, dass Menschen aus Trägheit oder Faulheit einer Spende nicht widersprechen. Sie ist ineffektiv, unverhältnismäßig und übergriffig und muss deshalb verhindert werden.

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Christiane Woopen sagt: "Vielen Menschen fällt es leichter, ihr Einverständnis durch Schweigen auszudrücken"

Die Organtransplantation ist ethisch etwas unbestritten Gutes. Und Umfragen zeigen eindeutig, dass die allermeisten Deutschen die Organspende gut finden. Natürlich ist dabei die Selbstbestimmung des Menschen unbedingt zu achten. Sie kann sich aber in zwei Formen äußern: durch ein Tun und durch ein Unterlassen.

Christiane Woopen ist Professorin für Medizinethik und geschäftsführende Direktorin des Ceres-Zentrums der Uni Köln sowie Vorsitzende des Europäischen Ethikrats. Sie war vor Peter Dabrock Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. © Reiner Zensen

Der Gesetzgeber darf in der hier anstehenden Abwägung aus guten ethischen Gründen festlegen, dass Schweigen Zustimmung bedeutet – wenn er sicherstellt, dass alle Bürger darüber informiert sind, was dieses Schweigen bedeutet. Das ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Widerspruchsregelung, genau wie die Möglichkeit, seinen Widerspruch einfach und unbürokratisch zu hinterlegen und jederzeit ändern zu können.

Ich bin davon überzeugt, dass es vielen Menschen leichter fällt, ihr Einverständnis durch Schweigen auszudrücken. Und auch Angehörige könnten durch die neue Regelung entlastet werden: Fragen Ärzte sie derzeit, ob der potenzielle Organspender, von dem kein ausdrücklicher Wille vorliegt, seine Organe spenden wollte, sagen viele aus Unsicherheit Nein. Wenn sich aber die Widerspruchsregelung einmal etabliert hat, können sie davon ausgehen, dass ihr Angehöriger letztlich zugestimmt hat.

Am besten wäre es natürlich, wenn Familien und Freunde über das Thema Organspende sprechen würden und auf diese Frage vorbereitet sind. Dann fällt es ihnen auch leichter, die Entscheidung in dem so belasteten Prozess des Abschieds und der Trauer zu akzeptieren. Auch wenn sie sie vielleicht selbst so nicht gefällt hätten.

Am allerklarsten ist es für alle, wenn jemand einer Organspende explizit zustimmt oder widerspricht. Das muss das vorrangige Ziel sein. Insofern befürworte ich strukturelle Verbesserungen sowie eine differenzierte persönliche Aufklärung und Beratung durch Fachpersonal, die eine ausdrückliche Entscheidung fördern. Leider haben wir in der Vergangenheit gesehen, dass Aufklärung allein noch nicht reicht. Es gibt zum Beispiel bereits eine verpflichtende Aufklärung durch die Kassen, die Zahl der Organspenden ist trotzdem nicht wirklich größer geworden.

Die Widerspruchsregelung ist für mich eine zusätzliche Chance: Wenn in der Gesellschaft einmal die Überzeugung verankert ist, dass nicht zu widersprechen bedeutet, seine Organe spenden zu wollen, dann wird die Organspende das Übliche. Das hat mit Pflicht oder Zwang nichts zu tun, es gibt ja nur die Notwendigkeit 5 bis 10 Minuten seiner Zeit zu verwenden, um einen Widerspruch zu hinterlegen, wenn man das möchte. Das ist angesichts der existenziellen Bedeutung für Menschen, die ein Organ für ihr Überleben benötigen, sehr gut vertretbar und kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte.

Ganz genau kann man nicht wissen, inwieweit eine Widerspruchsregelung die Zahl der Organspenden erhöhen würde. Aber es besteht eine ernsthafte Chance für Hunderte von Menschen, die auf Organe warten. Diese Chance sollten wir nutzen.

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